Ruhe & Kraft
Als Stoiker werden Personen bezeichnet, die durch emotionale Selbstbeherrschung und mit Hilfe von Gelassenheit und Seelenruhe zur Weisheit streben. Besser kann Roger Tönz (32) nicht beschrieben werden. Buchstäblich mit «stoischer Ruhe» hütet er seit 14 Jahren in der NLA das Tor von Alligator Malans. Aus der Ruhe lässt sich Tönz dabei nicht bringen. Fast nicht jedenfalls. Artikel lesen
Ruhe & Kraft
Roger Tönz ist seit 20 Jahren die Malanser Lebensversicherung und behauptete einst von sich, mehr mit dem Ball als mit Teamkollegen zu sprechen. Ein Blick hinter die Maske des Nationaltorhüters bringt aber mehr als Schweigen an den Tag.
TEXT: RETO VONESCHEN
FOTOS: ERWIN KELLER
Als Stoiker werden Personen bezeichnet, die durch emotionale Selbstbeherrschung und mit Hilfe von Gelassenheit und Seelenruhe zur Weisheit streben. Besser kann Roger Tönz (32) nicht beschrieben werden. Buchstäblich mit «stoischer Ruhe» hütet er seit 14 Jahren in der NLA das Tor von Alligator Malans. Aus der Ruhe lässt sich Tönz dabei nicht bringen. Fast nicht jedenfalls. Ein einziges Mal verlor er die Nerven - am 19. Oktober 2002 nahm er den Torpedo Chur-Verteidiger Marcel Taisch nach einem hektischen Derby kurzerhand in den Schwitzkasten. Sekunden später rannten sämtliche Spieler beider Teams vor das Malanser Tor. Nur mit Mühe konnten die aufgeheizten Gemüter wieder beruhigt werden.
Früh gefördert
Es brauchte schon einen Haudegen vom Formate Taischs, um Tönz aus der Fassung zu bringen. Beinahe demütig kniet er während 60 Minuten im Tor und treibt mit seiner Ruhe die gegnerischen Stürmer zur Verzweiflung. «Ich lasse mich nicht mehr stressen», erklärt er mit der Erfahrung von über 400 NLA Spielen gelassen. Seine 190 cm bewegt er erstaunlich gewandt durch den Torraum. «Bereits vor 16 Jahren hatte das Goalietraining bei Alligator Malans einen grossen Stellenwert», nennt er die Gründe für seine stupende Technik. Nach vielen Koordinationsübungen, liess er sich von den damaligen Malanser Söldnern Torbjörn Jonsson und Thomas Fogelberg die Finger wund schiessen. «Das gab zwar einige blaue Flecken, aber hat mir damals viel geholfen», erinnert er sich gerne zurück.
Kein Mann der grossen Worte
In der Malanser Mannschaft nimmt Tönz eine Sonderstellung ein. Nur selten meldet er sich bei Teamsitzungen zu Wort. «Es gibt genug andere, die gerne reden», sagt der Konstrukteur. Er schaut lieber für sich und lässt es in den Trainings zwischendurch etwas gemütlicher angehen. Der Spagat zwischen Beruf, Sport und Privatleben ist für den 100 Prozent Angestellen nicht immer leicht. «Jederzeit Vollgas geben liegt nicht mehr drin, wichtig ist für mich, dass ich an den Spielen topfit bin. Dort wird meine Leistung gefordert». Lieber mehr Qualität, lautet sein Motto. Auch das Sommertraining darf er als einziger neben Adrian Capatt selber bestreiten. Dass ihm solche Freiheiten gewährt werden, hat einen Grund. Ist Tönz in Form, gilt Alligator als Titelkandidat. An allen vier Titeln hatte er massgeblichen Anteil. «Es braucht immer einen guten Torhüter um Meister zu werden. Mit Tönz hatten wir den besten», sagte Ausnahmekönner Martin Olofsson vor zwei Jahren.
Malanser Gründungsmitglied
Seit 21 Jahren dreht sich das Leben von Roger Tönz um den weissen Plastikball. Im zarten Alter von zwölf Jahren gründete der damalige Rechtsverteidiger des FC Malans mit Louis Liesch und einigen Kollegen den UHC Malans und spielte fortan in der 2. Liga und der B-Junioren Mannschaft. Vier Jahre später fusionierten die Malanser mit dem Nachbarsverein Alligator Jenins. Mit dessen Gründer Thomas Berger verbindet Tönz bis heute eine Freundschaft. «Er hat mich am meisten geprägt», gibt er unumwunden zu. Aber auch nach dessen Abgang 2002 stand für ihn ein Wechsel in der Schweiz nicht zur Debatte. «Der Wohlfühlfaktor ist gross, die Ziele sind ambitioniert, was will ich mehr?» fragt er sich mehr rhetorisch. 1997 wurde er «seinen» Alligatoren allerdings beinahe untreu. Beim damaligen schwedischen Spitzenteam Haninge trainierte er zwei Wochen lang. Ein Engagement kam aber nicht zustande.
Unverständnis über frühe Rücktritte
Dass er mit 32 Jahren langsam «zum Inventar gehört», wie er es lachend ausdrückt, stört ihn nicht. Mehr dagegen das Verhalten seiner jüngeren Mitspieler. «Viele können nicht mehr beissen, werfen nach Rückschlägen gleich das Handtuch und beenden ihre Karriere viel zu früh», ärgert er sich. Mehr Selbstkritik und Durchhaltewillen wünscht er sich manchmal von der neuen Generation. Dass er einen grossen Teil seines Lebens mit einem Amateursport verbracht hat, bereut er nicht. «Ich war nie der Typ, der jedes Wochenende in den Ausgang gehen musste.» Sogar auf einen Polterabend wollte er verzichten - kurzerhand wurde Tönz von seinen Teamkollegen am Abend vor der Hochzeit zu Hause aber abgeholt. Erst in den frühen Morgenstunden wurde er in Malans wieder entlassen.
Keine Gedanken ans Aufhören
Die Frage nach seinem Rücktritt drängt sich nach 14 Jahren NLA fast auf. Eine Antwort lässt er sich aber nicht entlocken. «Solange ich das Gefühl habe, mich weiter zu entwickeln, denke ich nicht ans Aufhören», sagt er bestimmt. Schlechte Aussichten für potentielle Nachfolger, gute für Alligator Malans. Seit er in dieser Saison seine Form gefunden hat, geht es mit den Herrschäftlern wieder aufwärts. Zu Beginn der Saison hätte er am liebsten «das Tor an die Wand geworfen». Vor allem in Biglen, als ihm sechs Eier im Minutentakt ins Nest gelegt wurden. Seine Erfahrung half ihm aber weiter. «Jeder Tiefschlag macht einen nur stärker», hat er im Lauf der Jahre gelernt.
Langes Warten
Nicht immer lief es in seiner Karriere rund. Vor allem auf internationaler Ebene stockte seine Entwicklung. National top, international flop - dieser «Titel» klebte jahrelang wie alter Kaugummi an seinem Helm. Bereits im Februar 1996 absolvierte er sein erstes Länderspiel. Beim 2:2 gegen Tschechien durfte er für 30 Minuten ran. Mittlerweile sind 71 Einsätze dazugekommen, erst zehn Jahre nach seinem Debüt avancierte er aber zur alleinigen Nr. 1. Das 4:4 in Malmö gegen Schweden war der erste Punktverlust des sechsfachen Weltmeisters an Titelkämpfen. «Ich habe selten eine reelle Chance bekommen, war zu lieb und hab vieles einfach geschluckt, statt zu rebellieren», erklärt er seinen späten Durchbruch. Die Enttäuschung über die Durststrecke ist ihm anzumerken. «Ich war immer der Meinung, dass die Leistung entscheiden sollte und nicht Worte neben dem Platz.»
Überraschendes Outing
Die grösste Enttäuschung erlebte er aber im Frühling 2005. Im dritten Playoff-Halbfinalspiel gegen GC wurde Tönz im letzten Drittel beim Stand von 4:6 ausgewechselt. Schon in den Spielen zuvor hatte er haltbare Tore kassiert. Weshalb er neben den Schuhen stand, wurde erst anderthalb Jahre später bekannt. Tönz hatte gerade erfahren, dass er unfruchtbar ist. Ein Schock für ihn und seine Ehefrau Yvonne. Erst nach missglückten Versuchen einer künstlichen Befruchtung wandte sich das Ehepaar an die Öffentlichkeit. In einem grossen Artikel in der Migros-Zeitung erklärten sie im Januar 2007 ihr Dilemma. «Wir haben uns lange überlegt, ob wir mit diesem Tabuthema an die Öffentlichkeit gelangen wollen», erklärt Tönz, der an einem angeboren Hodendefekt leidet, von welchem zwei Prozent aller Männer weltweit betroffen sind.
Druck ist weg
Das Paar wollte nicht länger schweigen und Fragen nach allfälligem Nachwuchs mit Notlügen beantworten. «Es war eine Riesenbelastung, uns immer zu verstellen». Eine schwere Zeit sei das gewesen, «aber ich musste die Situation anerkennen, so schmerzlich das auch war.» Nebst dem psychischen Druck zehrte auch die finanzielle Belastung am jungen Ehepaar. Seit seinem «Outing» sieht er die Welt mit anderen Augen. «Gewisse Sachen sehe ich gelassener», sagt er. Und ärgert sich über frischgebackene Eltern, die lieber einen Jungen statt einem Mädchen in den Armen tragen würden. Die Hoffnung auf Nachwuchs haben Roger und Yvonne noch nicht aufgegeben. Die letzte Variante wäre eine Adoption. «Das wäre aber wieder mit einem Riesenaufwand und hohen Kosten verbunden», hat sich Tönz schon informiert. Glücklicherweise kann er sich auch im Privatleben auf seine Geduld verlassen. Dass sich langes Warten auszahlt, hat er mehr als einmal in seinem Leben erfahren.