01.
2002
Seitenblick: Jugendsport zwischen Mythos und Wirklichkeit
Von Markus Lamprecht, Kurt Murer und Hanspeter Stamm*
Die Diskussion um den Jugendsport scheint gegenwärtig eine dramatische Wende zu nehmen. Neue Studien deuten darauf hin, dass der Jugendsport seine sozialen und pädagogischen Ziele nicht erreicht und sich die Jugendlichen ohnehin vom konventionellen Sport abwenden. Gleichzeitig wird über die Abschaffung des Drei-Stunden-Obligatoriums an Schulen diskutiert. Ist der Jugendsport, wie wir ihn kennen, am Ende?
Jugendliche gelten als Seismographen des gesellschaftlichen Wandels. Entwicklungen im Jugendbereich werden deshalb besonders scharf beobachtet und analysiert. Soziologen entdecken im Verhalten der Jugendlichen Anzeichen einer beschleunigten Individualisierung. Politologen rätseln über die zunehmende Politikverdrossenheit. Pädagogen proklamieren das Ende der Kindheit, und umtriebige Trendspäher spüren in den Jugendszenen die neuesten Modetrends auf.
Auch im Sport stehen die Jugendlichen im Brennpunkt des Interesses. Dabei geht es nicht nur um den sportlichen Nachwuchs und die Entdeckung und Förderung zukünftiger Sportgrössen. Der Jugendsport gilt als Bollwerk gegen die Gefahren einer anonymen, egoistischen und bewegungsarmen Konsumgesellschaft: Sport ist nicht nur gesund, Sport steigert auch das Selbstwertgefühl und stärkt den Willen, macht teamfähig und stressresistent. Sport erzieht die jungen Leute zu leistungsbereiten, verantwortungsvollen und toleranten Menschen. Seine Multifunktionalität macht ihn zum idealen Instrument im Kampf gegen soziale und gesundheitliche Defizite. Die gesellschaftliche Relevanz bringt es aber auch mit sich, dass Veränderungen im Jugendsport mit Argwohn und Besorgnis verfolgt werden.
Jugendsport in der Krise?
Seit einigen Jahren mehren sich die Stimmen, die im jugendlichen Sportverhalten Zeichen einer dramatischen Veränderung der Sportwelt erkennen wollen. Trendsportarten wie Snowboarden, Skateboarden oder Inline-Skaten propagieren nicht nur eine neue Bewegungsform, sondern eine fundamental andere Vorstellung von Sport. Wer auf Brett oder Skates das Erlebnis des Gleitens sucht, will sich nicht fassen lassen, unerreichbar und damit frei und unabhängig bleiben. Das neue Sportverständnis wehrt sich so gegen Disziplinierung, Anleitung, pädagogische Vereinnahmung, gegen Expertentum und Leistungsvergleich. Leistung und Wettkampf seien out, Risk und Fun in. Die neue Sportwelt sei individualistisch, kurzlebig und lustbetont, so der Tenor.
Noch ehe man sich der Konsequenzen dieser Veränderungen so richtig bewusst werden konnte, geisterte im Sommer 2001 eine wahre Hiobsbotschaft durch den deutschen Blätterwald. In einer neuen, aufwendigen Jugendstudie konnte der Paderborner Sportwissenschafter Wolf-Dieter Brettschneider nachweisen, dass Anspruch und Wirklichkeit in der vereinseigenen Jugendarbeit weit auseinander klaffen. Mit Blick auf eine gezielte Förderung der körperlichen Entwicklung, aber auch bezüglich positiver Sozialisationseffekte und Gesundheitsprävention vermögen die Vereine ihre hoch gesteckten Ziele nicht zu erreichen. Der Verein sei - so eine der Schlussfolgerungen aus der Brettschneider-Studie - «kein Reparaturbetrieb für gesellschaftliche Defizite».
Ist der Sportverein also ein Auslaufmodell - gleich unpopulär wie unnütz? Verschiedene in den letzten Jahren durchgeführte Datenerhebungen eröffnen uns die Möglichkeit, diese Aussagen für die Schweiz empirisch zu überprüfen. Dabei zeigt sich: Die Wirklichkeit ist weniger spektakulär, keinesfalls aber weniger interessant.
Hohes Vereinsengagement
Wirft man einen Blick auf die verschiedenen repräsentativen Bevölkerungsbefragungen, so springt zunächst das hohe Vereinsengagement der Jugendlichen ins Auge: Fast die Hälfte aller 15- bis 19-Jährigen macht Sport im Verein. Ein Unterschied zwischen den Sprachregionen ist für einmal nicht auszumachen. Die Zahlen decken sich mit den Angaben aus der letzten Vereinsstudie von Swiss Olympic: Die Sportvereine sind die wichtigsten ausserschulischen Anbieter von Jugendsport, und Kinder und Jugendliche stellen für die Vereine das wichtigste Mitgliedersegment dar. Vier von zehn Vereinsmitgliedern sind jünger als 20 Jahre.
Von Vereinsmüdigkeit kann also nicht die Rede sein - im Gegenteil. Vergleicht man die neuen Angaben mit den Zahlen aus den achtziger Jahren, so kommt man zum Schluss, dass das Vereinsengagement nicht ab-, sondern zugenommen hat. Wir können davon ausgehen, dass heute so viele Kinder und Jugendliche wie noch nie im Sportverein aktiv sind. Ein Befund, der - obwohl in der derzeitigen Vereinsdiskussion meist nur am Rande zitiert - gut mit der Paderborner Studie übereinstimmt. Weshalb entsteht aber trotzdem vielerorts der Eindruck, Vereinssport sei passé? Warum kämpfen viele Vereine mit Nachwuchsproblemen, und warum herrscht mancherorts der Eindruck, es sei immer schwieriger, an die Jugendlichen heranzukommen? Wollen die Vereine ihren Erfolg einfach nicht sehen, oder stecken andere Probleme dahinter?
Eine erste Erklärung für die Diskrepanz zwischen Sportstatistik und persönlichen Wahrnehmungen liefert der Blick auf die demographischen Veränderungen. Zwischen 1980 und 2000 ist die Gruppe der 15- bis 19-Jährigen von 512 000 Personen auf 414 000 Personen geschrumpft. Allein auf Grund des sogenannten Pillenknicks hätte in den letzten 20 Jahren also jede fünfte Jugendabteilung geschlossen werden müssen. Es kommt dazu, dass sich die Vereinsmitgliedschaft im Lebenslauf nach vorne verschoben hat. Die Kinder treten immer jünger in einen Verein ein und entsprechend früher wieder aus. Das Vereinsengagement hat sich teilweise in die Kindheit vorverlagert, gleichzeitig verlieren Vereine Jugendliche in einem Alter, in dem sie früher erstmals eingetreten sind. Dieser Prozess wird verstärkt durch die hohen Fluktuationsraten. Wenn nicht aus-, dann wird zumindest umgestiegen. Man beginnt in der Jugi, schnuppert einmal im Judoklub, wechselt von der Leichtathletik zum Volleyball oder tauscht den Fussball mit dem Unihockey-Schläger. Lebenslange Vereinstreue finden wir nur noch bei den älteren Semestern. Schuld an dieser Entwicklung sind aber weniger die unsteten und wankelmütigen Jugendlichen als vielmehr übergeordnete Veränderungen in Sport und Gesellschaft.
Bunte und vielfältige Sportwelt
Die moderne Sportwelt ist bunt und vielfältig. Zu den klassischen Wettkampf- und Mannschaftssportarten kamen die trendigen Abenteuer-, Risiko- und Erlebnis-Sportarten sowie die Spiel- und Bewegungsformen aus anderen Kulturen. Neben Leistung und Training stehen Selbsterfahrung, Spass und Entspannung. Hunderte von Sportangeboten machen den modernen Sport zu einem unübersichtlichen, gerade deshalb aber auch benutzerfreundlichen Feld, in dem jeder eine Betätigung nach seinem Geschmack finden kann. Das Problem ist nur, dass man angesichts immer neuer Herausforderungen kaum mehr Zeit findet, auf den Geschmack zu kommen.
Die Sport- und Fitnessindustrie hat die Kinder und Jugendlichen als Konsumenten entdeckt. Die Produktlebenszyklen einzelner Sportgeräte und Sportmoden werden immer kürzer, und das Verhalten der Jugendlichen spiegelt die Verlockungen und Widersprüche einer kommerzialisierten und differenzierten Sportwelt. Es wird munter kombiniert und ausprobiert. «Handballer» oder «Leichtathlet» ist man allenfalls noch auf Zeit, etwa wenn André Bucher Weltmeister wird. Zwar kennt auch die Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen ihre Lieblingssportarten - die mit Radfahren, Schwimmen, Joggen und Fussballspielen weniger spektakulär sind, als häufig angenommen wird -, der Hauptbefund der repräsentativen «Sport Schweiz 2000»-Studie zeigt jedoch, dass gerade auch die jüngere Generation ausgesprochen polysportiv geworden ist. Im Durchschnitt wurden von den aktiven 14- bis 29-Jährigen in den letzten zwölf Monaten neun Sportarten ausgeübt. Bei den 30- bis 44-Jährigen sind es noch sechs Sportarten und bei den über 45-Jährigen deren vier.
Angesichts des breiten Angebots und der immer kürzeren Halbwertszeiten einzelner Sporttrends vermag es nicht zu verwundern, dass einzelne Sportarten von Nachwuchssorgen geplagt werden. Dies umso mehr, als immer noch viele Vereine im Jugendbereich allein auf Leistungssport setzen. Da ist nicht mehr nur die Konkurrenz der anderen Vereine, in den letzten Jahren sind zusätzlich viele kommerzialisierte und «freie» Angebote entstanden. Tatsächlich ist der «freie» Sport in den letzten Jahren schneller gewachsen als der organisierte Sport, was wiederum den Eindruck erweckt, die Vereine verlören ihre Kundschaft. Auch hier vermag der Blick auf die neuesten Zahlen jedoch mit einigen hartnäckigen Vorurteilen aufzuräumen: Der «freie» Sport wächst nämlich nicht auf Kosten des Vereinssports, sondern parallel zu diesem.
Ein Vereinsengagement hindert einen aber keineswegs daran, auch ausserhalb des Vereins aktiv zu sein - im Gegenteil. Soziale Einbindung und Leistungssport hier, Unabhängigkeit und Erlebnissport dort. Vereinssport und freier Sport sind genauso wenig Gegensätze wie Verein und Fitnesscenter. Auch hier ist das Verhältnis eher durch Koexistenz als durch Konkurrenz gekennzeichnet, indem die Vereinssportler auch überdurchschnittlich häufig die kommerziellen Angebote nutzen.
Was bringt der Jugendsport?
Vor dem Hintergrund einer bunten und unübersichtlichen Sportlandschaft erklärt sich auch, weshalb der Nachweis von positiven Sozialisations- und Gesundheitseffekten des Sporttreibens nicht ganz einfach fällt. Anhand der schweizerischen Gesundheitsbefragung lässt sich zwar zweifelsfrei belegen, dass gerade bei jungen Menschen körperliche Bewegung mit einem verbesserten Gesundheitsbewusstsein und Gesundheitsverhalten verknüpft ist: Sportliche Jugendliche rauchen deutlich weniger und achten stärker auf ihre Ernährung. Wer im Alter von 15 bis 24 Jahren regelmässig Sport treibt, zeichnet sich zudem durch weniger körperliche Beschwerden, ein höheres psychisches Wohlbefinden und eine positivere Lebenseinstellung aus. Die gefundenen Zusammenhänge sind jedoch nicht besonders stark, und es lassen sich problemlos Sportlergruppen identifizieren, bei denen diese positiven Effekte nicht zu finden sind. Zudem bleibt umstritten, ob verbessertes Gesundheitsverhalten und psychisches Wohlbefinden tatsächlich eine direkte Folge des Sports- und Vereinsengagements sind.
Obwohl in der Schweiz keine Längsschnittstudie vorliegt, an der die Frage nach Ursache und Wirkung überprüft werden könnte, kann man sich diesbezüglich problemlos der Brettschneider-Studie anschliessen. Angesichts der Breite und Vielfalt der Angebote ist bezüglich der gesundheitsfördernden und persönlichkeitsformenden Kraft von (organisiertem) Sporttreiben tatsächlich Zurückhaltung angebracht. Will man bestimmte Effekte mit Sporttreiben hervorrufen, so sind diese auch gezielt zu fördern. Oder mit den Worten von Wolf-Dieter Brettschneider: «Von der Vorstellung, dass sich die gewünschten Wirkungen automatisch einstellen, muss man sich wohl verabschieden.»
Das Zitat verweist auf einen anderen wichtigen Problemkreis, nämlich den Schulsport. Angesichts des breiten Angebots und des insgesamt hohen Sportengagements der Jugendlichen kann man sich die Frage stellen, ob es den Schulsport überhaupt noch braucht - eine Frage, die über die Diskussionen rund um das Drei-Stunden-Obligatorium brennend aktuell geworden ist. Für einen qualitativ hoch stehenden und quantitativ ausreichenden Schulsport gibt es aber gerade auch in einer unübersichtlichen und widersprüchlichen Sportlandschaft gute Gründe.
Die Brettschneider-Studie macht zunächst deutlich, wie wichtig ein positives pädagogisches Umfeld gerade auch im Sport ist. Die erwünschten physischen, psychischen und sozialen Sozialisationseffekte stellen sich auch im Sport nur ein, wenn sie bewusst gefördert werden. Hier hat der Schulsport einen klaren Auftrag, den es ernst zu nehmen gilt. Zudem lässt sich zeigen, dass der Schulsport und das Drei-Stunden-Obligatorium für die weniger sportlichen Jugendliche besonders wichtig sind. Genauso wie Computerkids kaum auf die Computerstunden im Lehrplan angewiesen sind, sind auch die sportbegeisterten Jugendlichen weit weniger vom schulischen Bewegungsangebot abhängig. Für die anderen ist der Sportunterricht aber von grosser Bedeutung.
Abbau des Schulsports?
Der Abbau des Schulsports scheint in der Schweizer Bevölkerung aber ohnehin kein Thema zu sein: Gemäss der repräsentativen Befragung «Sport Schweiz 2000» vertreten 70 Prozent der Bevölkerung die Meinung, der Schulsport sollte ausgebaut werden, um dem heutigen Bewegungsmangel zu begegnen. Die Aussage «Der Schulsport sollte reduziert werden, weil heute andere Fächer wichtiger sind» findet dagegen nur bei 6 Prozent der Bevölkerung Zustimmung. - Insgesamt präsentiert sich die Situation im Schweizer Jugendsport damit nicht ganz so dramatisch, wie dies manchmal behauptet wird. Der Jugendsport verändert sich ebenso wie andere Bereiche der Gesellschaft. Daraus ergeben sich zwar Probleme und Herausforderungen, die es anzunehmen und zu bewältigen gilt - keineswegs aber eine grundlegende Krise, die in absehbarer Zeit zum Aus für den Jugendsport führen wird.
* Markus Lamprecht und Hanspeter Stamm sind Soziologen und Lehrbeauftragte an Universität und ETH Zürich.
Professor Kurt Murer ist Vorsteher des Instituts für Bewegungs- und Sportwissenschaften der ETH Zürich.
Quelle: Neue Zürcher Zeitung, 4. Januar 2002