12.
2019
Auf dem Silbertablett
Die Schweiz hat sich an der Heim-WM in Neuchâtel eine hervorragende Ausgangslage für den ersten Final-Einzug seit zehn Jahren verschafft. Vor dem Halbfinal stimmt vieles im Schweizer Team.
Die Ausgangslage vor dem samstäglichen Halbfinal präsentiert sich für die Schweizer Frauen-Nationalmannschaft so gut wie schon lange nicht mehr. Dank einer furiosen Leistung gegen Vize-Weltmeister Finnland (7:4) und souverän erledigten Pflichtaufgaben gegen Deutschland (12:1), Polen (11:0) und Lettland (10:4) weichen sie im Halbfinal Rekordweltmeister Schweden aus.
Der Funke ist gesprungen
Im Halbfinal wartet nun der Weltranglistenvierte Tschechien. Letztmals trafen die beiden Nationen vor zehn Jahren an der WM in Västeras aufeinander. Auch damals bezwang die Schweiz in der Gruppenphase Finnland (5:3), ehe sie sich mit einem 5:1-Sieg über Tschechien den Finaleinzug sicherte. Seitdem scheiterte man jeweils immer im Halbfinal an Finnland oder Schweden. Mit Corin Rüttimann, Julia Suter, Tanja Stella und Seraina Ulber sind noch vier Spielerinnen aus dem Vize-Weltmeisterteam von 2009 (im Final gab es eine 2:6-Niederlage gegen Schweden) in Neuenburg mit dabei.
Die Situation von damals ist aber nicht mit derjenigen von heute zu vergleichen. Noch selten hat sich die Frauen-Nati in einem physisch so guten Zustand wie an der diesjährigen WM präsentiert. Das harte Sommertraining hat sich ausbezahlt und ist auch aus der Distanz ersichtlich. Mittlerweile ist es für die Schweiz auch gegen einen Top-Gegner wie Finnland kein Problem, während 60 Minuten ein hohes Pressing zu betreiben. Es ist eine Waffe, die man früher nicht hatte. Dadurch wird das Spiel zwar zuweilen wild und unkontrolliert, aber es sprüht vor Energie und hat dazu geführt, dass der berühmte Funke schon von der ersten Sekunde an aufs Publikum übersprang - an einer Heim-WM ein entscheidender Erfolgsfaktor.
Überragende Special Teams - und Heini
Wenn die Spielerinnen immer wieder von der ausserordentlichen Geschlossenheit und dem enormen Zusammenhalt sprechen, heisst das eben auch, dass niemand abfällt, alle auf ihrem Niveau spielen und jede ihren Job erledigt. Die kleinen Erfolgserlebnisse übertragen Energie auf die Mitspielerinnen. Phasenweise waren die Schweizerinnen durch ihr konsequentes und schnörkelloses Auftreten kaum zu bändigen.
Auch sonst stimmt vieles in diesem Schweizer Team. Die Effizienz beispielsweise. Der Mix in den drei Linien oder die Special Teams. Diesbezüglich weist die Schweiz sogar überragende Werte auf. Drei Unterzahlsituationen wurden bisher (mit zumeist viel Ballbesitz) gekillt, auf der anderen Seite drei von drei Powerplaymöglichkeiten ausgenutzt. Und mit Lara Heini hat man die momentan wohl beste Torhüterin der Welt im Kasten. Wird ein Jahr nach Pascal Meier sogar zum zweiten Mal ein Keeper aus unserem Land zum WM-MVP gewählt?
Gelungene Rollenverteilung
Nationaltrainer Rolf Kern hat mit seinem Staff um Kari Koskelainen und Jonas Grunder viel richtig gemacht. Am 1-2-2-Pressing wurde in den letzten Wochen und Monaten viel gearbeitet, die Fortschritte sind klar ersichtlich. Die Schweizerinnen verhalten sich im Positionsspiel deutlich cleverer und konsequenter als in der Vergangenheit. Auch eine Topnation wie Finnland hatte gegen den ständigen Druck enorme Mühe. Dabei waren es doch die Finnen, die dieses System einst einführten.
Auch ging die ehemalige HCR-Crew weg von der langjährigen Top-Linie um Rüttimann, Ulber und Wiki und fährt nun eine drei Linien-Strategie. Alle Formationen können Tore erzielen, wobei die Rüttimann-Linie bisher die produktivste ist. Kern verstand es auch, den Spielerinnen 16 bis 18 eine entsprechende Rolle zu geben. Frick, Rossier und Hintermann kamen abgesehen vom Finnland-Spiel in jeder Partie zu mindestens 20 Minuten Einsatzzeit. Letztere zwei werden zudem immer im bisher so gut funktionierenden Boxplay eingesetzt. Die Rollenverteilung stimmt, alle akzeptieren sie. Nicht zuletzt deswegen wird der grosse Teamzusammenhalt bei jeder Gelegenheit erwähnt.
Was zaubert der Coachingstaff aus dem Hut?
Es ist auch nach langem analysieren schwierig, grosses Verbesserungspotential im Schweizer Spiel auszumachen. Am ehesten vielleicht noch im Festsetzspiel, in dem noch mehr die Tiefe und Breite gesucht werden kann. Vor allem gegen Tschechien, das mit den Verteidigerinnen Manndeckung spielt, wird dies ein wichtiger Punkt sein. Andererseits hat man bei Ballgewinnen so geradlinig agiert, dass längere Festsetzphasen gar nie möglich waren.
Trotz den vielen positiven Aspekten wird sich Kern vor dem Halbfinal auch einige Fragen stellen. Gehen wir weiterhin so hoch forechecken oder ziehen wir uns auch einmal zurück und überlassen dem Gegner den Ball? Wenn ja, agieren wir weiterhin im 1-2-2 mit Druck von beiden Flügeln oder gehen wir zurück in ein Steuersystem? Und: welches sind unsere besten 10 Leute, falls es nicht nach Wunsch läuft oder es ein enges Spiel gibt? Denn bis jetzt wurde der Coaching-Staff - bis auf die letzten Minuten gegen Finnland - noch nicht gezwungen, auf zwei Linien runter zu gehen. Da haben Kern und Co. die Qual der Wahl. Michelle Wiki, die zweitbeste Schweizer Torschützin des Turniers, hat beispielsweise gegen Polen bestens mit der Rüttimann-Linie harmoniert. Gerig dafür gegen Lettland einen Hattrick erzielt. Die Flexibilität stimmt also im Schweizer-Team auch.
Wird die Schweiz aber wieder mit so viel Energie ans Werk gehen, muss man dieses Fragen vielleicht gar nicht beantworten und auf den sonntäglichen Final verschieben. Mit dem Publikum im Rücken geht vieles einfacher. Das dem so ist, hat sich die Nati selber erarbeitet - das war in der Schweizer Teamsportgeschichte nicht immer so. An der Eishockey-Heim-WM von 2009 quaselte der sonst so gefestigte Kommunikator Ralph Krueger irgendetwas von "Heim-Nachteil". Von dem ist in Neuenburg weit und breit nichts zu sehen.