11.
2022
Auf jedes Szenario vorbereitet
Erst zum zweiten Mal überhaupt trifft die Schweiz in einem WM-Halbfinal auf Tschechien, die Ausgangslage ist so gut wie seit 18 Jahren nicht mehr. Ein Workshop und ein neues Staffmitglied sollen dafür sorgen, dass die Nati auf alles gefasst ist und die letzten Prozente herausgeholt werden.
Das Vorgeplänkel ist vorbei. Die Schweiz hat die Gruppenphase an der Heim-WM als Sieger abgeschossen und den Viertelfinal gegen Lettland überstanden. Der Start war gegen Norwegen harzig, das Resultat unbefriedigend. Die Reaktion gegen Finnland fiel wiederum heftig aus, der erste Sieg gegen die Skandinavier nach 18 Jahren versetzte die Fans in Extase. Der viermalige Weltmeister spielte aber auch alles andere als überzeugend, leistete sich ungewohnt viele Fehler - auf der anderen Seite war die Schweiz da und nutzte sie aus.
Nervige Viertelfinalaufgabe
Das letzte Gruppenspiel gegen die Slowakei war dann etwas wild, aber schlussendlich doch souverän. Und gegen Lettland hiess es: Hauptsache überstanden. Ein Viertelfinal ist für eine Nation wie die Schweiz sowieso die mühsamste Angelegenheit an einem WM-Turnier. Die Fans erscheinen nur spärlich, weil sich die Mehrheit Tickets für die beiden Wochenenden gekauft hat. Der Gegner darf in die Underdog-Rolle schlüpfen und hat im Gegensatz zum Favoriten nichts zu verlieren. Die Schweiz hat die Aufgabe erfüllt, das «Wie» interessierte schon am Tag danach niemanden mehr. Mit dem Gruppensieg hat sie sich zudem die beste Ausgangslage seit 18 Jahren erschaffen, in dem sie auf Tschechien - den Weltranglisten Vierten - trifft.
Das gab es bisher erst an der Heim-WM 2004 in Kloten, sonst hiess der Gegner immer Schweden oder Finnland. Wie es endete ist Jedem bekannt, die Schweiz verlor sowohl den Halbfinal als auch das Spiel um Platz 3. Vor drei Jahren erlebte die Frauen-Nati in Neuenburg die gleiche Situation. Sie bezwang in der Gruppenphase Finnland und traf dann im Halbfinal auf Tschechien. Mit Rolf Kern befindet sich der Coach des «Wunder von Neuenburg» mittlerweile im Staff der Herren-Auswahl. «Neuenburg war Neuenburg. Jetzt wird eine andere Geschichte geschrieben», sagt der 30-fache Nationalspieler, als er darauf angesprochen wird, was er von seiner Heim-WM-Erfahrung in die Swiss Life Arena mitnehmen konnte.
Die schlechten Phasen überstehen
Dass Tschechien für einen WM-Halbfinal das bessere Los ist, wird im Schweizer Lager gar nicht erst verneint. Es braucht aber trotzdem immer noch eine sehr gute Leistung des Gastgebers, die Tschechen befinden sich im Aufwind. Die Generation um Benes, Nemecek und Langer sollte reif für Grösseres sein. Flankiert wird die junge Garde von den Routiniers Jendrisak, Kisugite sowie Tokos, die die dritte Linie bilden. Zudem hat Tschechien mit Lukas Bauer einen Goalie, der sich in den letzten Jahren zu einem grossen Rückhalt entwickelte. «Unsere Chancen stehen jetzt etwa 51 zu 49», formuliert es Tobias Heller. Der neue Headcoach Jarsolav Berka hat nach seinem Amtsantritt ein mannorientiertes (und etwas konservatives) System eingeführt. Gegen dieses sei es wichtig, dass immer alle Spieler in Bewegung sind, erklärt Heller. Der Verteidiger gehört bisher zu den Besten im Schweizer Ensemble und bildet mit Nicola Bischofberger ein solides Abwehrduo. «Seit ich in der Nati bin, hatte ich noch nie einen anderen Verteidigungspartner. Wahrscheinlich weil wir von Anfang an gut harmonierten und es deshalb keinen Grund gab, uns auseinander zu nehmen.»
Die Linien durcheinanderwirbeln, das musste Trainer David Jansson an diesem Turnier bis jetzt nicht. Jede Formation hatte bisher mindestens ein Spiel, in dem es ihnen gut lief. Die Sturm-Duos Maurer/Schiess, Zaugg/Seiler und Laely/Riedi haben Tore herauskombiniert, das Level des Selbstvertrauens sollte bei den Stürmern hoch sein. Ganz konstant, wie es an dieser WM einzig den Schweden gelang, waren die Schweizer Auftritte bis jetzt noch nicht. Es gab immer wieder schlechte Phasen, vor allem beim Auslösungsspiel gegen hohen Druck. Doch im Gegensatz zu anderen Jahren übersteht die Schweiz diese meistens ohne grösseren Schaden. Auch am Finalwochenende wird sich die Nati mit einer solchen Lage auseinandersetzen müssen - und dabei weiterhin versuchen, sie mit Ballbesitz unter Kontrolle zu bringen.
Tobias Heller schaltet sich an der WM oft in den Angriff ein. (Bild: Dieter Meierhans)
Der Workshop
Es ist nur eines von etlichen Szenarien, die das Team von David Jansson im Vorfeld der WM durchgespielte. Heller erzählt in einem Gespräch im Schweizer Hotel von einem Workshop. Jeder Spieler durfte dabei spezielle Szenarien aufschreiben: von Fan-Ausschreitungen über eine schlimme Verletzung eines Mitspielers bis hin zum im Stau steckenden Team-Bus. Alles Vorfälle, die unvorhergesehen eintreten und einen Spieler aus dem Konzept bringen könnten. «Auch resultatbezogen sind wir alle Möglichkeiten durchgegangen und haben anschliessend Verhaltensvorschläge zu den entsprechenden Szenarien erstellt», so Heller weiter. Die Liste mit den Inputs hängt im Hotel auf und kann von jedem Spieler abgeholt werden. An einer Heim-WM soll schliesslich jeder Akteur auf alle besondere Ereignisse vorbereitet sein.
Initiiert wurde der Workshop unter anderem von Rolf Kern. Der ehemalige Red Ants und HCR-Coach wurde im Hinblick auf das Turnier im eigenen Land von David Jansson ins Boot geholt - genau für solche Sachen. Um die Spieler mit einer entsprechenden Garderobeneinrichtung sowie aufputschenden Videos, Soundtracks oder Ansprachen zu motivieren. «Von seiner Elektrobude hat er ja das entsprechende Equipment schon bereit», erwähnt Heller lachend. Kern arbeitet vor allem im Hintergrund, auch während des Spiels. Weil Jansson mit der Taktik und Misini mit den Wechseln beschäftigt sind, versucht er, den Spielern individuelle Tipps punkto Körpersprache und Mentalität zu geben. «Für mich ist sehr wichtig, dass wir immer den Fokus behalten und eine positive Ausstrahlung haben. Und ich denke, dass ich das auch gut vermitteln und zurechtrücken kann, wenn es mal verloren geht.»
Was bringt ein «Wild-West-Unihockey»?
Vor einem Jahr schlitterte die Schweiz an der WM in Helsinki an einer Medaille vorbei. Vor allem während des Final-Wochenendes wurde der Nati vorgeworfen, mit zu wenig Energie zu agieren. Auch in Zürich wirkte das Spiel manchmal träge. Es sind genau diese Spielphasen, die für Aussenstehende manchmal nur schwer nachvollziehbar sind. Für die Mannschaft ist dagegen das Ziel klar: die Kontrolle zurückgewinnen und das Spiel beruhigen. Gegen die Slowakei war das erste Drittel beispielsweise für die Zuschauer mitreissend, in taktischer Hinsicht aber furios.
Und dennoch: würde der Schweiz nicht auch gegen Top-Nationen manchmal ein bisschen mehr Unihockey wie im «Wilden Westen» guttun? «Das ist eben die Krux der Balance», antwortet Kern. Heller verweist derweil darauf, dass der Staff diesbezüglich einmal Statistiken präsentierte. Die Zahlen sprachen aber eher für die Gegner. Ein probates Mittel für einen Coachingstaff, um die letzten Energiereserven seiner Mannen abzuzapfen, ist manchmal auch eine klare und deutliche Garderobenansprache. Kern bestätigt dies und erwähnt auch, dass er für so etwas bereit wäre. "Das ist mein Job. Aber es muss dosiert sein und zum richtigen Zeitpunkt kommen.» Gegen Norwegen sei er einmal laut geworden, damals habe es aber nicht viel gebracht. In den anderen Partien war es wegen des Verlaufs nicht mehr nötig.
Heller findet, das mit dem Zuzug von Kern ein neuer Aspekt in die Mannschaft und den Staff gekommen sei und traut ihm eine solche Aufgabe durchaus zu. «Mit seiner tiefen Stimme hört ihn auf jeden Fall auch der Hinterletzte. Vielleicht ist es genau das, was uns in einem solchen Spiel noch gefehlt hatte.» Im Halbfinal hat die Schweiz eigentlich alle Vorteile auf seiner Seite: sie spielt gegen den Gruppenzweiten, sie spielt zu Hause und sie hatte eine lange Erholungszeit. Die letzten fehlenden Prozente aus den Spielern herausholen, das ist nun die Herausforderung für Rolf Kern. Dafür wird er wieder einen speziellen Motivationstrick aus dem Hut zaubern. Doch wie schafft er es, dass der vermeintliche Vorteil nicht plötzlich wieder in einen Druck umkippt? «Es wird auf jeden Fall um Winner-Mentalität gehen», gibt er nach dem Lettland-Spiel über seine anstehende Rede Preis. Tiefer auf den Inhalt will er aber nicht eingehen. Der Überraschungseffekt soll ja bei den Spielern nicht verpuffen.
WM-Halbfinals
12. November
Schweden - Finnland
14:00 Uhr - Swiss Life Arena, Zürich
Schweiz - Tschechien
17:30 Uhr - Swiss Life Arena, Zürich